Ausstellungsübersicht 2023
VIVA LA VIDA
Landesbibliothek Glarus, 21. April 2023, 18.30 Uhr
Künstlerinnen in der dritten Lebensphase
Bedeutende Werke von Künstlerinnen entstehen vielfach erst in ihrer dritten Lebensphase – eine Tatsache, die bisher kaum zur Kenntnis genommen wird. Auch wenn einzelne Künstlerinnen – Maria Lassnig, Georgia O'Keeffe, Meret Oppenheim oder Agnes Martin – gerühmt werden, ist das Phänomen der späten Schaffenskraft von Frauen in seiner vollen Bedeutung nicht im öffentlichen Bewusstsein präsent. Louise Bourgeois baut mit 90 Jahren Türme und Käfige, die 80-jährige Maria Lassnig intensiviert ihre Malerei, die 70-jährige Magdalena Abakanowicz führt ihre monumentalen Figureninstallationen der Crowds weiter. Auch ihre berühmte Pietàgestaltet Käthe Kollwitz erst im Alter von 70 Jahren.
Alle diese Werke sind sichtbares »Beweismaterial« für die Kreativität von Frauen und entkräften den »Mythos Alter«. Die Souveränität der Werke lässt vergessen, durch wie viele schwierige Prozesse sie gegangen sind – doch eben diese Lebensprozesse sind Voraussetzung für eine Intensivierung der Werke. Künstlerinnen im 20. Jahrhundert entwickeln neue Umgangsweisen mit dem Älterwerden, keineswegs utopische Entwürfe, sondern Lebensrealität. Das Potential der späten Jahre, das »Late Life Potential«, machen diese Künstlerinnen in ihrer Bildarbeit überzeugend sichtbar. Die dritte Lebensphase ist die Zeit etwa zwischen 50 und 80 Jahren, »le troisième âge«, wie es im Französischen heißt.
Im Werk älterer Künstlerinnen ist vielfach eine neue, intensivierte Authentizität zu beobachten. Ab 50 scheinen sie unbekümmerter zu arbeiten, eine neue Freiheit zu erleben, die oft mit einem Energieschub verbunden ist. Offensichtlich mobilisiert das Verfolgen eigener Ideen und Arbeiten die Lebensenergien und hält das kreative Potential wach, wenn es auf individuellen Lebens- und Kunstkonzepten basiert.
Möglicherweise liegt im unerbittlichen Ticken der biologischen Uhr um 50 eine Chance zur Neuorientierung. In diesen Jahren intensiviert sich das Bewusstsein, dass die Lebenszeit begrenzt ist, und es werden konsequent Prioritäten gesetzt. Es gehört Mut dazu, Brüchen ins Gesicht zu sehen.
Viele Künstlerinnen folgen ihrem Gefühl kohärenter, lassen sich mutiger als männliche Kollegen auf Emotionen und Krisen ein, ohne sich dabei aufzugeben. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Krisen zu akzeptieren und zu verarbeiten, wodurch neue Energien frei werden. Gegen 50 möchten viele es außerdem »noch einmal wissen«, was ebenfalls einen neuen Energieschub auslösen kann.
Quelle: Hanna Gagel, Soviel Energie - Künstlerinnen in der dritten Lebensphase